Heilendes Cola

So viele Gebetsformen, so viele Möglichkeiten, höhere Mächte um was auch immer anzurufen: gesprochene Gebete, Gesänge, Räucherstäbchen, Psalme, Gebetsketten und Rosenkränze, Gebetsmühlen, Butterlampen, Mantras, Coca-Cola …

Coca-Cola?
Ja! Im mexikanischen Bundesstaat Chiapas haben sich sehr spezielle Formen von religiösen oder spirituellen Ritualen entwickelt. Besonders berühmt wurde die sogenannte „Coca-Cola Church“, eine Kirchengemeinde, die eigentlich „St. John the Baptist“ heißt.

Die lokale Bevölkerung gehört großteils zu der Gruppe der Tzotzil Maya. Lokale Schamanen und Schamaninnen verwenden Coca-Cola in ihren jeweiligen Zeremonien. Dabei werden beispielsweise Dutzende Flaschen mit Coca-Cola zusammen mit verschieden-farbigen Kerzen, Räucherstäbchen und sonstigen Utensilien in einem Halbkreis oder auch vor einer Art Altar aufgestellt. Das süße Getränk kann dabei durchaus für unterschiedliche Ziele eingesetzt werden.

Etwa für Heilungszeremonien, um – aus unserer Sicht ironischerweise – Menschen von Diabetes zu heilen. Im lokalen Glauben wird Diabetes durch Ärger, vor allem innerhalb der Familie, verursacht, also wenn sich Verwandte gegenseitig schimpfen, anschreien oder anlügen. Im Rahmen der Zeremonie wird Cola dann beispielsweise in kleine Gläser gefüllt und über brennenden Kerzen oder Räucherstäbchen vergossen. Die zu heilende Person muss am Ende dieses Rituals auch selbst davon trinken.

Angeblich besagt ein anderer Grundsatz des dortigen Glaubens auch, dass Aufstoßen die Seele von Bösem befreit. Dabei hilft Cola definitiv! Durch das Rülpsen können Körper und / oder die Seele gereinigt, von etwas Belastendem befreit werden, von einer Krankheit, bösen Gedanken, einer Sünde oder Ähnlichem.

Und auch bei Feiern anlässlich einer Geburt, einer Hochzeit oder zur Feier eines Heiligen ist Cola ein unverzichtbarer Bestandteil der jeweiligen Zeremonie. Überdies werde die Süße des Getränks von den diversen Geistern, Seelen oder Gottheiten sehr wertgeschätzt, davon sind die Heilerinnen und Heiler überzeugt.

Besser als Schnaps?
Aber natürlich gibt es auch eine Zeit vor Coca-Cola. Für die diversen Rituale wurde früher meistens Pox verwendet, ein Schnaps, dem medizinische und magische Eigenschaften zugeschrieben wurden. Dieses in der Kultur der Tzotzil-Maya traditionelle Getränk wird aus Mais, Weizen und Zuckerrohr hergestellt wird und hat einen Alkoholgehalt von rund 40%.

Pox ist aber angeblich auch ein „einzigartiger Geist“ der Tzotzil-Mayas in Chiapas. Und ein Symbol des indigenen Widerstands. Die indigene Bevölkerung wehrte sich im 16. Jahrhundert gegen die spanischen Invasoren und Missionare – sie konnten so einen Großteil ihrer Kultur bewahren, einschließlich der Verwendung von Pox bei zeremoniellen Riten.

Letztlich haben sich die europäischen Eroberer aber in Form der katholischen Kirche durchgesetzt und es in Mexiko genauso wie überall sonst auf der Welt gemacht: die lokale Kultur wurde unterdrückt, verboten, am besten ausgerottet. Dazu zählt auch das Verbot von traditionellen alkoholischen Getränken, erst recht, wenn diese auch noch einen indigenen widerspenstigen Geist repräsentieren. Vom Schnaps zum Softdrink – ein Fortschritt?

Besser als Wasser?
Was hier wahlweise witzig, unglaublich oder schräg klingt, hat darüberhinaus auch handfeste zeitgenössische politische, ökonomische, sozialpolitische Hintergründe. Es ist hier nicht der richtige Platz für gesellschaftspolitische Analysen, aber ich möchte zumindest kurz anreißen, welche Ursachen bzw. Folgen der Einsatz von Coca-Cola in Mexiko hat.

Vincente Fox, von 2000 bis zum Jahr 2006 Präsident von Mexico, war vorher bei Coca-Cola als Manager und Leiter für Mexiko und Lateinamerika tätig. Während seiner Amtszeit als Präsident bestellte Fox dann folgerichtig einen ehemaligen Coca-Cola-Chef zum Wasserkommissar Mexikos – was dazu führte, dass Coca-Cola umfangreichste Nutzungsrechte für die Wasserressourcen im Land sowie für die Förderung von Grundwasser erhielt.

Coca-Cola ist heute im mexikanischen Alltag viel einfacher, an fast jeder Ecke, zu jeder Zeit und zu einem günstigen Preis verfügbar – im Gegensatz zu sauberem Trinkwasser. Für die Bevölkerung gibt es nur eine schwache Wasserversorgung, viele Haushalte haben entweder gar keinen Wasseranschluss oder dieses ist nur wenige Male pro Woche verfügbar, in stark gechlorter Qualität.

Darüber hinaus gibt es etliche Diskussionen bezüglich der gesundheitlichen Folgen des übermäßigen Konsums von Softdrinks. Die Diabetes-Rate in Mexiko ist die höchste weltweit. Gibt es in der indigenen Bevölkerung aber eventuell eine genetisch bedingte Anfälligkeit für Diabetes? Oder hängt das mit dem sehr hohen Konsum von Softdrinks zusammen? Mit der zunehmenden Verdrängung der traditionellen Ernährung und der günstigen Verfügbarkeit von Fast-Food? Arbeitet der Coca-Cola Konzern ohnedies schon an einer Reduzierung des Zuckergehalts in Mexiko?

Es ist schon ein ziemlicher Strauß an hoch aktuellen gesellschaftspolitischen Fragestellungen, der hinter etwas vermeintlich Skurrilem wie eine Coca-Cola-Zeremonie stecken kann.

ArtFood: Essen mit Kunst.


Infos & Quellen

Bilder:
*Titelbild: Ernesto Rodriguez, Pixabay.
*Coca-Cola Church, Still entnommen: Coca-Cola als Opfergabe? Wie eine komplette Region der braunen Brause verfallen ist; Galileo, YouTube.
*Zeremonie mit Coca-Cola-Flaschen: Francesca De Nuccio, This small town in Mexico is addicted to Coca-Cola. It also grapples with a deadly disease; 9.9.2022, SBS News
*Bildergalerie Stills entnommen: Coca-Cola als Opfergabe? Wie eine komplette Region der braunen Brause verfallen ist; Galileo, YouTube.
*Pox: Posheria; in: Kat Odell, Everything You Need to Know About Pox, the Mexican Spirit Making Its Way to the US, A world beyond tequila and mezcal; 11.3.2020, Liquor.com
*Mexiko Landschaft, Still entnommen: Coca-Cola als Opfergabe? Wie eine komplette Region der braunen Brause verfallen ist; Galileo, YouTube. 
*Wasser: wal_172619, Pixabay.

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