Der hyperboreische Schimmer von Milch

Dass ich mich durch die sieben Bände bzw. 4.296 Seiten von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit arbeite, habe ich hier ja schon mehrmals erwähnt. Und es ist wahrlich ein langer Weg. Eine der besten Beschreibungen dieses Roman-Werks: „Ein Leselabyrinth von gigantischen Ausmaßen“ – ja, genauso ist es.

Mittlerweile bin ich auf Seite 1.652 angekommen :-). Und auf dem Weg dorthin habe ich wieder eine wunderbare literarisch-kulinarische Gemme entdeckt.Marcel, der Erzähler im Roman, besucht seinen guten Freund Robert Saint-Loup in dessen Garnison. Das Kasernenzimmer, in dem Marcel auf ihn wartet, ist voll von fremden Geräuschen. Und da macht er sich seine Gedanken darüber, wie das mit den Geräuschen so ist, wenn man ein schlechtes Gehör hat, wenn man zeitweise nichts hört beispielsweise wegen Ohrstöpseln – oder wenn man gar nichts hören kann, weil man taub ist. Und das liest sich dann unglaublicherweise so:

„Jemand, der völlig ertaubt ist,
kann nicht einmal einen Topf Milch direkt neben sich erhitzen,
ohne bei geöffnetem Deckel mit den Augen
den weißen, hyperboreischen Schimmer abpassen zu müssen,
der einem Schneesturm ähnelt
und das warnende Zeichen bildet,
dem man ratsamerweise Folge leistet, indem man den Stecker zieht
und wie der Herr den Wogen Einhalt gebietet;

denn schon erreicht das aufsteigende und krampfhaft zuckende Ei der kochenden Milch
an einigen seitlichen Erhebungen seinen Höchststand,
schwillt, bläht einige halb umgestürzte Segel,
die der Rahm in Falten gelegt hatte,
wirft noch eines von Perlmutt in den Sturm,
die allesamt die Unterbrechung des Stroms,
sofern das elektrische Unwetter beizeiten gebannt wird,
um sich selbst kreisen und abdriften lassen wird,
verwandelt in Blütenblätter von Magnolien.“

Noch nie wurde sooo über kochende Milch geschrieben! Diese detailverliebte, kreative und gleichzeitig unglaublich poetische Art, alltägliche Kleinigkeiten nach ausführlichem Nachsinnen zu beschreiben, kann ich grenzenlos bewundern.

ArtFood: Essen mit Kunst.

PS: Bisher zum Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hier bei ArtFood erschienen: Dem Manet und dem Proust sein Spargel. Die Unvermeidlichen. Traubenkur am Beauvais.


Infos & Quellen
*Zitat entnommen: Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; Gesamtausgabe, Neuübersetzung Bernd-Jürgen Fischer, Reclam Verlag.

Bilder:

*Titelbild: StockSnap, Pixabay.
*Miclhtropfen: StockSnap, Pixabay.
*Überkochende Milch: Myriams-Fotos, Pixabay.

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