Futuristische Küche #1: Wie alles begann …
Heute falle ich gleich mit der Tür ins Haus: Politik! Bitte trotzdem weiterlesen, es lohnt sich wirklich :-).
Ich weiß, aktuell machen die meisten Politiker und Politikerinnen keinen vertrauenserweckenden oder besonders kompetenten Eindruck. Aber: Ich halte Politik (nicht Parteipolitik!) für sehr wichtig.
Denn Politik ist nichts anderes als die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse – von Umweltschutz und öffentlichen Verkehrsmittel, über Förderung von Wissenschaft, Forschung und Kultur bis hin zu Abfallbeseitigung und vieles mehr.
Wie politisch die Themen Lebensmittel bzw. Essen sind, habe ich beispielsweise bei „Politisches Getreide“ und bei „Über das Essen“ angesprochen.
Heute geht es um eine radikale Positionierung gegenüber Lebensmittel und Mahlzeiten im Dienst einer radikalen Politik: Futuristische Küche und Futuristisches Essen. Wir begeben uns also ins Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das zu dieser Zeit eine Monarchie war.
Das Futuristische Manifest
Diese Geschichte beginnt mit Filippo Tommaso Marinetti, gelernter Rechtsanwalt, der aber zunächst eine Karriere als Schriftsteller einschlug – und zum Begründer des Futurismus wurde. Seine 1905 gegründete Zeitschrift wurde zum Sprachrohr einer Gruppe junger Schriftsteller, die eine radikale Veränderung der italienischen Literatur forderten. Davon ausgehend dachte Marinetti über weit umfangreichere Veränderungen nach – und publizierte am 20. Februar 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro sein Manifest des Futurismus. Dieses bildete die Basis einer radikalen Politik, die das Kochen und das Essen erneuern sollte.
In diesem Manifest erläuterte Marinetti in einer poetischen Techno-Sprache die unbedingte Notwendigkeit einer umfassenden, grundsätzlichen Erneuerung von Gesellschaft und Politik. Diese Umwälzung kann nur mittels radikaler Methoden erreicht werden. Für die geforderte substantielle Erneuerung muss der „fanatische, unverantwortliche und snobistische Kult der Vergangenheit“ zerstört werden. Man muss auf die Straße gehen und alles zertrümmern, denn „Schönheit gibt es nur noch im Kampf.“
Die Futuristen lehnten demnach alle Formen der künstlerischen und politischen Vergangenheit Italiens ab, die „Museen, Bibliotheken und die Akademien jeder Art“, die gesamte bisherige Kunst. Das Futuristische Manifest preist die Schönheit von Geschwindigkeit, Industrialisierung und Technologie, es verherrlicht Gewalt, die Liebe zur Gefahr sowie den Krieg, „diese einzige Hygiene der Welt“, ohne den die notwendige, gänzliche Erneuerung von Staat und Gesellschaft nicht möglich sei.
Der Futurismus hat also eine durch und durch politisierte Haltung dem gesamten Alltag gegenüber. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht futuristisch umzugestalten wäre – Malerei, Literatur, Küche, Essen – alles.
Die Futuristische Küche
Für Marinetti war klar, dass Menschen „denken, träumen und handeln entsprechend dem, was sie trinken und essen“ (si pensa, si sogna e si agisce secondo quel che si beve e si mangia) – dass also ein Zusammenhang zwischen Ernährung und politischer Haltung besteht. Der für die Futuristen unumgängliche Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse muss daher auch in der Küche und beim Essen stattfinden.
Die Futuristen gestalteten ihre serate, ihr abendlichen Dinners, immer schon in sehr ungewöhnlicher Weise, in der Art von Banketten oder in einer frühen Form von Happenings. Aber erst am 28. Dezember 1930 wurde in der Gazzetta del Popolo in Turin das Manifest der Futuristischen Küche veröffentlicht. Gefordert wurde „un programma di rinnovamento totale della cucina“, also ein Programm zur totalen Erneuerung der Küchenkultur.
Mittagessen: 11 Futuristische Regeln
In diesem Manifest definierte Marinetti unter anderem folgende 11 essentielle Regeln für ein perfektes futuristisches Mittagessen.
- Eine originelle Harmonie von Gläsern, Geschirr und Tischdekoration mit den Aromen und Farben der Speisen.
- Absolute Originalität bei den einzelnen Gerichten.
- Die Erfindung wohlschmeckender Kunststoffkomplexe, deren ursprüngliche Harmonie von Form und Farbe die Augen nährt und die Fantasie anregt, bevor sie die Lippen verführt.
- Keine Messer oder Gabeln, sondern Verwendung von speziellen Werkzeugen aus Kunststoff, die ein „prä-labiales taktiles Vergnügen auslösen sollen.
- Der kunstvolle Einsatz von Parfum, um die Verkostung zu begünstigen. Jedem Essen muss ein Parfüm vorangestellt werden, das von Ventilatoren vom Tisch entfernt wird
- Begrenzte Verwendung von Musik zwischen den einzelnen Gerichten, Empfindlichkeit der Zunge und des Gaumens nicht abzulenken und dazu zu dienen, den genossenen Geschmack zu vernichten, indem eine schmeckende Jungfräulichkeit wiederhergestellt wird.
- Politische Diskussionen und Reden sind verboten.
- Dosierter Einsatz von Poesie und Musik als plötzliche Zutaten, um die Aromen eines bestimmten Gerichts mit ihrer sinnlichen Intensität zum Leuchten zu bringen.
- Die einzelnen Gänge des Essens kommen sehr schnell hintereinander. Manches auf dem Tisch würde nicht gegessen werden, sondern nur mit Augen und Nase erlebt, um Neugier, Überraschung und Fantasie zu fördern.
- Gleichzeitige, wechselnde Häppchen, die zehn, zwanzig Geschmacksrichtungen enthalten, die in wenigen Augenblicken genossen werden können. Diese Häppchen werden in der futuristischen Küche die unermessliche analoge Funktion haben, die Bilder in der Literatur haben. Ein gegebener Biss kann einen ganzen Lebensbereich, die Entfaltung einer liebevollen Leidenschaft oder eine ganze Reise in den Fernen Osten zusammenfassen.
- In der Küche, beim Kochen sollen wissenschaftliche Instrumente verwendet werden, zum Beispiel Ozonisatoren, um Lebensmittel den Geruch von Ozon zu verleihen; UV-Lampen, um Lebensmittel zu aktivieren; Kolloidalmühlen, um Lebensmittel zu pulverisieren; etc. Chemische Indikatoren prüfen die Saucen und zeigen an, ob zum Beispiel Salz fehlt, zu viel Essig oder zu viel Zucker drinnen ist und ähnliches.
Die Futuristische Kulinarische Revolution: Pasta ist nix für Kämpfer!
Die futuristische kulinarische Revolution ging aber noch weiter: keine Pasta mehr!
„Vielleicht profitieren die Briten von Stockfisch, Roastbeef und Pudding, vom niederländischen Fleisch mit Käse, die Deutschen von Sauerkraut, Räucherschmalz und Cotechino (Anm.: eine Rohwurst)“, so Marinetti, aber: „Pasta ist nicht gut für Italiener.“ Diese sei eine unsinnige gastronomische Religion in Italien. Sie verursache Schwäche, Pessimismus, nostalgische Untätigkeit, Neutralität und würde die Begeisterungsfähigkeit trüben.
Aber die Italiener „sollen keine Pasta essenden Räuber und Mandolinenspieler“ mehr sein, keine „Pastascuittisten“, sondern Kämpfer. Sie sollten „agile Körper“ haben, um in der „wahrscheinlichen künftigen Feuersbrunst“ bestehen zu können. Zudem sei Pasta „anti-viril“, weil ein schwerer, vollgestopfter Bauch „weder die körperliche Begeisterung für eine Frau fördert, noch die Möglichkeit begünstigt, sie jederzeit zu besitzen.“ Ja, der Futurismus war auch anti-feministisch.
Patriotischer Reis
Die Italiener sollen nicht nur schlanke, fitte Kämpfer werden – die Ernährung im Sinne des Futurismus sollte auch Nationalismus und Patriotismus fördern. Reis anstelle von Pasta bzw. Weizen zu essen, sei eine „patriotische“ Wahl, denn dadurch könnte auch die Abhängigkeit Italiens von ausländischen Weizen-Importen reduziert werden.
Hier bestand eine Überschneidung mit der Landwirtschafts-Politik des faschistischen Diktators Benito Mussolini. Sein battaglia del grano, sein Weizenkampf zielte ebenfalls auf eine wachsende Unabhängigkeit Italiens vom Ausland sowie auf eine Förderung nationaler Erzeugnisse.
Futuristische nährende Radiowellen
Wie bereits erwähnt, bestand für Marinetti ein Zusammenhang zwischen Ernährung und politischer Haltung. Neben Kampfgeist und Patriotismus sollte die futuristische Ernährung künftig die „Rasse radikal ändern, sie stärken, dynamisieren und vergeistigen“. „Lassen Sie uns jetzt die Nahrung schaffen, die für ein immer luftigeres und schnelleres Leben geeignet ist“. Nudel durch Reis zu ersetzen, war dabei allerdings zu wenig.
Die Erfindung gänzlich neuer Lebensmittel und Lebensmittel-Kombinationen sei notwendig „in denen Experiment, Intelligenz und Vorstellungskraft wirtschaftlich an die Stelle treten von Quantität, Banalität, Wiederholung und Aufwand.“ Wichtig ist dabei „die alten, tief verwurzelten Gewohnheiten des Gaumens ab(zu)töten und die Menschen auf zukünftige chemische Lebensmittel vor(zu)bereiten. Vielleicht bereiten wir die Menschheit sogar auf die nicht allzu ferne Möglichkeit vor, nährende Wellen über das Radio auszusenden.“
Die Küche und ihre Ausstattung, Lebensmittel und deren Anbauort bzw. Wirkung, Speisen und deren Gestaltung – alles ist politisch und soll den Zielen und Werten des Futurismus dienen.
In die Praxis umgesetzt wurden diese Regeln in der Futuristischen Taverne zum Heiligen Gaumen. Über deren an ein U-Boot erinnernde Ausstattung sowie die Details zum 14-gängigen Eröffnungsdinner vom 8. März 1931 erzähle ich im zweiten Teil: Futuristische Küche #2. Das Futuristische Kochbuch und seine Rezepte bespreche ich dann in Futuristische Küche #3.
ArtFood: Essen mit Kunst.
Infos & Quellen
*Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, Wikisource (italienisch).
*Filippo Tommaso Marinetti, Luigi Colomba (aka Fillia): Manifesto della Cucina Futurista, Wikipedia (italienisch).
Bilder:
*Politics: Wokandapix, Pixabay.
*Filippo Tommaso Marinetti: Wikipedia.
*Umberto Boccioni: Elasticità, 1912, Wikipedia.
*Spaghetti: joshuemd, Pixabay.
*Zeitung Faksimile: When Italian Futurists Declared War on Pasta, OpenCulture.
*Reis: ImageParty, Pixabay.
*Umberto Boccioni: Forme uniche della continuità nello spazio (Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum), 1913, MetMuseum.
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