Noch mehr Heilige Zitronen!
Wie in Heilige Zitronen überall! bereits angekündigt, sind es nicht nur die alten Griechen und das Christentum, für die Zitronen eine mythologische, himmlische oder hoch symbolische Bedeutung haben. Auch andere Glaubenssysteme haben’s mit den Zitrusfrüchten.
Laubhüttenfest
Im Judentum spielt eine Zitrusfrucht bei einem der wichtigsten Feste, dem im Herbst begangenen sogenannten Laubhüttenfest (Sukkot) eine rituelle Rolle. Bei diesem siebentägigen Erntedankfest gehört eine ganz spezifische Art der Zitronatzitrone zu den verwendeten Symbolen, gemeinsam mit dem Feststrauß aus Palmzweig, Myrtenzweig und Bachweide. In diesem rituellen Zusammenhang wird die Frucht als Etrog bezeichnet.
Für die Gestaltung des Laubhüttenfestes bestehen zahlreiche Regeln. Im Buch Levitikus übermittelt Gott unter anderem folgende Anweisungen dazu:
„Der HERR sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Am fünfzehnten Tag dieses siebten Monats ist sieben Tage hindurch das Laubhüttenfest für den HERRN. … Am fünfzehnten Tag des siebten Monats, wenn ihr den Ertrag des Landes erntet, feiert sieben Tage lang das Fest des HERRN! … Am ersten Tag nehmt schöne Baumfrüchte [Früchte vom schönen Baum], Palmwedel, Zweige von dicht belaubten Bäumen und von Bachweiden und seid sieben Tage lang vor dem HERRN, eurem Gott, fröhlich.“
Rabbinische Schriftgelehrte definierten diese „schönen Baumfrüchte“ vor sehr langer Zeit schon als Zitronatzitrone. Durch diese Frucht ergibt sich auch eine Querverbindung zu christlichen Geschichten. In einer spezifischen Auslegung von jüdischen religiösen Texten, der sogenannten Bereschit Rabba, wird „der Etrog mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis, von der Adam und Eva aßen, identifiziert.“ Die Zitrusfrucht des jüdischen Laubhüttenfestes wird also mit der Frucht aus dem christlichen Paradies gleichgesetzt. Und symbolisiert hier Auferstehung sowie die Verheißung des Paradieses für die Verstorbenen.
Die rituell verwendeten Zitrusfrüchte müssen natürlich strengen Qualitätsanforderungen entsprechen und werden vor ihrer Verwendung einer eingehenden Überprüfung unterzogen. Sie dürfen nicht von einem gepfropften Baum stammen, dürfen keinerlei Spuren von Insektenfraß haben und müssen unversehrt, rein, fleckenlos und von einheitlicher Farbe sein. Die Spitze darf nicht abgebrochen sein.
Etrogim nach Sukkot
Aufgrund der großen symbolischen Bedeutung der Etrog-Frucht wurde diese im Kunsthandwerk, auf Münzen, Grabsteinen etc. vielfach dargestellt. Beispielsweise wurden zur Aufbewahrung dieser kostbaren Etrog-Frucht bis zum und während des Laubhüttenfestes spezielle Behälter angefertigt, die sogenannten Etrog-Dosen. Diese konnten aus Silber, Zinn oder Glas sein, auch textile Etrog-Taschen wurden gefunden.
Und auch in die Alltagssprache fanden sie Eingang: So streng die Früchte vor dem Laubhüttenfest kontrolliert wurden, so sorgfältig ihre Aufbewahrung auch war: nach dem Fest konnte man die verderblichen Früchte nicht mehr brauchen, sie wurden wertlos. Daraus entwickelte sich die Redewendung „Etrogim nach Sukkot“. Damit wird etwas Wertloses bezeichnet, etwas, das zu spät kommt oder nicht mehr gebraucht wird.
Buddhas Hand …
Bei Buddhismus und Hinduismus bewege ich mich inhaltlich auf sehr dünnem Eis. Aber zur Vervollständigung der vielfältigen symbolischen Bedeutung von Zitrusfrüchten möchte ich unbedingt Folgendes hier ergänzen.
Diese ungewöhnliche Zitrusfrucht, die den wunderbaren Namen Citrus medica var. sarcodactyli trägt, hat kein Fruchtfleisch, man kann keinen Saft aus ihr gewinnen und ihre einzelnen Segmente sind komplett von der Schale umhüllt. Umgangssprachlich wird sie auch Buddhas Hand genannt. Je nach Entwicklungsstadium der Frucht erinnert ihre Form an die geöffneten, betenden oder segnenden Hände Buddhas. Daher hat diese Zitronatzitrone im Buddhismus rituelle Bedeutung, beispielsweise als Opfergabe im Tempel. Im chinesischen Buddhismus symbolisiert sie zudem Glück, Zufriedenheit und langes Leben und findet auch als traditionelles Neujahrsgeschenk Verwendung.
Im kulturellen bzw. mythologischen Kontext Indiens wurden Zitrusfrüchte angeblich bereits in einer frühen Schrift des Sanskrits erwähnt, dem sogenannten Vajasaneyi Samhita – einer Sammlung von religiösen Texten, die 1200 und 800 vor unserer Zeitrechnung entstanden oder zusammengestellt worden sind. Wie bzw. in welchen Zusammenhang die Zitrusfrüchte beschrieben werden und welche rituelle oder symbolische Bedeutung sie da jeweils haben … da wird’s zu kompliziert für mich 🙂
… und Ganeshas Arme
Auch im hinduistischen Pantheon spielen Zitrusfrüchten eine Rolle. Die Götterwelt des Hinduismus ist ja sehr bunt, sehr vielfältig – und auch einigermaßen komplex. Sowohl Shiva als auch Lakshmi, zwei der wichtigsten Gottheiten, halten in manchen Darstellungen angeblich eine ganz spezifische Zitronatzitrone in der Hand: die am Fuß des Himalaya vorkommende Citrus medica L. var. limetta, auch matulunga-phala oder schlicht Sweet Lime genannt. Leider konnte ich bis jetzt nicht herausfinden, wofür genau die Zitrusfrucht hier steht: Unsterblichkeit? Weisheit? Fruchtbarkeit?
Zu guter Letzt noch ein Gott mit Elefantenrüssel: Die hinduistische Gottheit Ganesha ist auch in der westlichen Welt vergleichsweise bekannt. Er kann mehr als 30 unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen und in jeder hält er unzählige Dinge in seinen Händen.
Da Ganesha nicht nur gütig, weise und schelmisch, sondern auch naschhaft ist, haben viele seiner Symbole mit Essen zu tun: beispielsweise Mango, Granatapfel, Guave, Stängel von Zuckerrohr, ein Gefäß mit einer Art Suppe oder unterschiedlichste Süßigkeiten wie Laddu, Modaka oder Sesamkuchen.
Und mindestens drei seiner Erscheinungsformen halten eine Zitrusfrucht in einer der vielen Hände: der vierarmige Śakti Gaṇapati, der fünfköpfige und zehn-armige Heramba Gaṇapati sowie der sechs-armige Kshirpra Prasāda Gaṇapati. Eigentlich fast überflüssig zu erwähnen, dass alle diese Erscheinungsformen und unzähligen Symbole vermutlich für ebenso unzählige Eigenschaften stehen …
Ewiges Leben, Jugend, Sinnbild der Barmherzigkeit und der Frömmigkeit, der auch des Sündenfalls, Symbol für Tugend, Reinheit, Unschuld, Auferstehung, Erlösung, Jungfräulichkeit, unbefleckte Empfängnis, Fruchtbarkeit und Liebe, Glück, Zufriedenheit – wer denkt schon an all das, wenn er oder sie gerade Zitronensaft macht?
Infos & Quellen
*Zitat aus Levitikus 23, Verse 33-34, 39, 40: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Gesamtausgabe; Katholische Bibelanstalt GmbH Stuttgart, 2016.
*Das Buch Levitikus ist das dritte von fünf Büchern, die in der hebräischen Bibel als Tora bezeichnet werden. In der christlichen Bibel werden diese Schriften die Fünf Bücher Mose genannt, sie stehen am Beginn des Alten Testaments.
*Zitate zur Bedeutung der Zitrusfrucht im Judentum: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): Die Frucht der Verheißung; Ausstellungskatalog, Nürnberg 2011.
Bilder:
*Titelbild: RichardJohn, Pixabay.
*Leopold Pilichowski: Sukkot; 1894/95. Wikipedia.
*Zitronatzitrone: Wikipedia.
*Etrog-Dose: Wikipedia.
*Buddha: Momentmal, Pixabay.
* Citrus medica L., Himalaya: Vikram Kumar, Global Biodiversity Information Facility.
*Ganesha als heramba: Reproduction from the Śrītattvanidhi („The Illustrious Treasure of Realities“), an iconographic treatise compiled in the 19th century in Karnataka, India. Wikipedia.
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