Körper oder Geist? Das fing schon mit Aristoteles an …
Was sticht bei diesem Bild sofort ins Auge? Jedenfalls die überdimensionale Fleischkeule. Dazu eine schwarze Kanne, helle Brötchen, ein offenes Küchenkastl, Blumen in einer Vase, ein lederner Beutel, eventuell zur Aufbewahrung von Geld. Und klein im Hintergrund eine Figurengruppe vor einem Kamin.
Marta und Maria von Bethanien
Wer sind diese Personen? Der Titel dieses Bildes von Pieter Aertsen aus dem Jahr 1552 lautet „Christus bei Maria und Martha“, er bezieht sich auf eine Geschichte aus dem Lukas-Evangelium im Neuen Testament: Jesus kommt in ein Dorf, wo er zu Gast bei den Schwestern Marta und Maria ist. Marta verrichtet die Arbeit in der Küche ganz alleine, da Maria sich zu Jesus setzt und seinen Erzählungen zuhört – worüber Marta sich beschwert. Jesus antwortet: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ Dieser Satz findet sich auch als Inschrift auf dem Kaminsims: Maria heeft wtuercoren dat beste deel.
Ein paar Jahre später entstand eine ganz ähnliche Darstellung von Joachim Beukelaer: vorne im Bild eine Köchin, die uns geradewegs anblickt, während sie Geflügel aufspießt, neben sich wieder eine große Fleischkeule, im Hintergrund wieder die Gruppe an Personen. Diesmal scheinen beide Schwestern gleichzeitig bei Jesus zu sitzen.
Geist oder Körper?
Diese Erzählung im Lukas-Evangelium bedeutet in einer gängigen Interpretation, dass Spirituelles, dass sogenannte “geistige“ Nahrung höher zu bewerten sei als profane Alltäglichkeiten, wie beispielsweise die Zubereitung von Essen. Die Beschäftigung mit geistigen Dingen galt eigentlich schon seit Aristoteles als das Wahre, das Reine, wohingegen körperliche Belange – kochen, essen, trinken, Sex – von niedrigem Rang waren. Es galt: Kopf gegen Körper, Vernunft gegen Emotion, Rein gegen Unrein, Kultur & Philosophie gegen Natur.
Dieser Wertung folgend beschäftigten sich westliche Philosophien kaum jemals mit „praktischen“ Fragen, mit Aspekten des Alltags, des Essens bzw. des Körperlichen. Es galt, den Köper mit seinen zahlreichen Bedürfnissen mittels der Kraft des Geistes zu überwinden. Eine Haltung, der auch das Christentum immer schon viel abgewinnen konnte.
Große Stücke Fleisch
In diesen – man kann sagen: revolutionären – Bildern aus der Mitte des 16. Jahrhunderts wird diese jahrhundertelange Bedeutung gänzlich umgedreht. Im Vordergrund steht eindeutig das Körperliche, die Küche, das Essen, die irdischen Dinge. Die Nahrung des Körpers hat in diesen Darstellungen einen deutlich größeren Stellenwert als geistige Belange. Und nicht nur das: auch das Religiöse wird zurückgedrängt, die Szene aus dem Lukas-Evangelium ist nur mehr winzig klein im Hintergrund zu sehen. Sie wirkt eher wie eine Dekoration.
Und im Zentrum dieser Bilder stehen die Fleischstücke. Sie symbolisieren gemeinsam mit den anderen dargestellten Lebensmitteln den körperlichen Bereich: die bürgerliche Küche, Genuss, materielle Begierde sowie das Essen an einer gemeinsamen Tafel. Andererseits verbindet das Fleisch die weltliche Küche mit der religiösen Szene im Hintergrund. Denn das Fleisch steht auch für Christus selbst. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…“, so wird im Prolog des Johannes-Evangeliums die Menschwerdung bzw. Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus beschrieben. Falls es sich bei den großen Fleischstücken tatsächlich um Hammelkeulen handelt, stehen diese nochmals symbolisch für Jesus Christus, der auch als Lamm Gottes bezeichnet wird.
Diese auf den ersten Blick simplen Stillleben offenbaren also bei genauerer Betrachtung einen Blick in eine Zeit, als sich in der Bürgerschaft ein neues Selbstbewusstsein entwickelte. In diesen Fleisch-Stücken werden zentrale gesellschaftliche Diskurse thematisiert: Fragen zum Konsum, zu Nahrung, Geschmack und Appetit, zur Endlichkeit des menschlichen Daseins bzw. auch zum Verhältnis von Weltlichem und Religiösem.
Infos & Quellen
Bilder:
*Pieter Aertsen: Christus bei Maria und Martha (oder „Vanitas Stillleben“), 1552. Kunsthistorisches Museum Wien.
* Pieter Aertsen: Christus im Haus von Maria und Martha, 1553. Museum Boijmans Van Beuningen Rotterdam.
*Joachim Beukelaer: Köchin (im Hintergrund Christus bei Maria und Martha), 1574. Kunsthistorisches Museum Wien.
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