Ein Ei erzählt wie es einmal das Epizentrum eines Erdbebens war

Ein Ei erzählt aus seinen vielen unterschiedlichen Leben … – wie kommts?

Das Schöne am Recherchieren ist für mich, dass ich dabei immer wieder über Inhalte stolpere, die ich weder gewusst noch gesucht habe. So passiert mit dem heutigen Thema: ein Ei erzählt.

Herr Gröttrup setzt sich hin
… ist der Titel dieser Erzählung der Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo. Sie wurde dafür im Jahr 2016 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

Die Geschichte beginnt ganz banal: Herr und Frau Gröttrup sitzen beim Frühstück. Er ist pensionierter Raketenspezialist, eher ein Kontrollfreak und rechthaberisch und sie, tja, über Frau Gröttrup erfahren wir eigentlich nicht viel.

„Seine über die Jahre im Wesentlichen gleich gebliebene Morgenroutine würde heute bald mit Beginn des gemeinsamen Frühstücks – genauer gesagt, mit dem Essen des Eis – enden. … Während Frau Gröttrup die Eier in die Eierbecher stellte und einen auf seinem Teller, einen auf ihrem platzierte, griff Herr Gröttrup, ohne aufzustehen, nach einem Eierlöffel. … Außerdem, stellte er nebenbei fest, war heute sein Ei richtig abgeschreckt worden, denn es fühlte sich einfach angenehm warm an. Herr Gröttrup war völlig zufrieden mit seiner W… „Was ist denn das“?“

Herr Gröttrup schreit auf, Kaffee wird verschüttet, er hat gelbe, klebrige Ei-Flecken auf seiner Krawatte.

„Das. Ei. War. Noch. Weich.“

Und so erfahren wir, dass das Ei auf eigenen Wunsch hin weich geblieben ist, denn nun erzählt es uns einen Teil seiner Geschichte:

„Manchmal wache ich auf und denke: Heute bin ich ein Ei. Zugegeben: Das passiert mir nicht oft. Wer will schon ein Ei sein? Nicht wirklich rund, nicht wirklich stabil, nicht wirklich attraktiv. … Aber heute wollte ich einfach als etwas Belangloses durchgehen. Keine große Aufregung. … Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich diesmal wirklich gekocht würde. Sonst, wenn ich das Ei-Sein gewählt habe, bin ich immer den ganzen Tag einfach im Kühlschrank geblieben. … Aber auch Wesen wie ich haben manchmal schlechte Tage (ich wollte ja einfach im Kühlschrank chillen), und so, wie Irmis Mann [Herr Gröttrup] drauf war, habe ich gedacht: Den muss ich ein wenig provozieren. Also beschloss ich, nicht hart zu werden.“

Hier erfahren wir schon, dass es sich nicht bloß um ein Ei mit Bewusstsein handelt, sondern offenbar … ja was? Um eine Art „Wesen“ oder eine Art übergeordnetes „Bewusstsein“, das die unterschiedlichsten Gestalten annehmen kann. Im Jahr 1862 war es „als Epizentrum eines Erdbebens in Accra unterwegs.“ In einem anderen, früheren Leben der Gröttrups, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, war es Irmis letzter Lippenstift.

Im Jahr 1994, als Helmut Kohl die Wahl zum deutschen Bundestag gewonnen hatte, war es der rote Teppich und wäre sehr gerne plötzlich hochgeklappt, „so dass er auf dem Weg zum Podest hätte stolpern – eventuell auch hinfallen – müssen.“

Letztlich möchte dieses „Wesen“ aber etwas ganz anderes als bloß zu irritieren oder zu stören: „Ich habe gehofft, dass ich heute auch endlich geboren werden darf, aber mein Plan mit dem Ei-Sein ist nicht aufgegangen. Weil ich Irmis Mann gegenüber so ungeduldig und rechthaberisch gewesen bin, weiß ich jetzt schon, dass es bei dieser Runde wohl wieder nichts wird.“

Die Ich-Erzählung des Eis endet, aber die Geschichte selbst geht dann noch weiter, insbesondere mit der Figur der Putzfrau Ada, die dieses Ei erst in den Gröttrupschen Haushalt gebracht hat.

Hinter dieser fiktionalen Erzählung steckt zusätzlich eine tiefere Ebene, die mit der Biographie der Autorin zusammenhängt. Sharon Dodua Otoo ist als Tochter ghanaischer Eltern in London geboren und dieser afrikanische Hintergrund – bzw. wie die Autorin aufgrund dessen oft wahrgenommen wird – fließt in ihre Arbeiten ein.

Ein Text über das Weiß-Sein
„Meine Hautfarbe ist nur eine Facette meiner Persönlichkeit. Sie spielt erst in einer Gesellschaft voller Ressentiments eine Rolle. … Der Text war ursprünglich eine Auftragsarbeit. Ich sollte einen Text über das Weiß-Sein schreiben und schlug eine belletristische Form vor. So entstand ,Herr Gröttrup’. Im Grunde geht es darin um Privilegien und was diese mit Menschen anstellen. Davon handeln alle meine Geschichten.“, so die Autorin.

Und es geht auch um das Wahrgenommen werden von vermeintlich Anderem. In der Story wird die Putzfrau Ada von den Gröttrups nicht wahrgenommen, ja, sie wissen nicht einmal, dass diese bereits fließend Deutsch spricht. Sie wüsste auch einiges über das Ei zu erzählen. Aber keine würde ihr zuhören. Auch würden die deutschen, weißen Gröttrups niemals dem Ei, das sich weigert zu tun, was von ihm erwartet wird, ein Bewusstsein oder ähnliches zugestehen.

Dazu nochmals Sharon Dodua Otoo: „No matter how much we think we know, how clever or qualified we are, there are always those who have a different form of insight. And […] it would be worth trying to take a step back and finding out more from those around us, especially those who are underestimated far too often.”

Hier liest die Autorin die Geschichte „Herr Gröttrup setzt sich hin: Bachmannpreis (Video 24 min)


Infos & Quellen
*Sharon Dodua Otoo: Website.
*Zitate der Autorin entnommen aus: Wiley Online Library sowie Der Tagesspiegel.
*Der Text dieser Kurzgeschichte ist hier zu finden: Bachmannpreis.

Bilder:
*Titelbild Ei mit Holzhammer: Ei & Holzhammer: Steve Buissinne auf Pixabay.
* Reihenhäuser: holzijue auf Pixabay.
*Eierbecher: Pezibear auf Pixabay.
*Weiche Eier: Myriams-Fotos auf Pixabay.
*Leere Eierschale: Henri Van Ham auf Pixabay.

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