Böll, Grass, Hegel … alle für die Würscht!
Bücher, die man nicht mag, Schriftsteller, die man beneidet oder gar fürchtet – was tun damit? Ignorieren? Sich ärgern? Selbst Schreibkurse an der Volkshochschule besuchen? Oder vielleicht Würste herstellen?
Letzteren Weg hat der 1998 verstorbene Künstler Dieter Roth gewählt. Er ist Vertreter einer Kunst, die ab Anfang der 1960er Jahre die Kluft zwischen Leben und Kunst überwinden will. Reale Gegenstände aus dem Alltag wurden in das Kunstschaffen integriert: Suppendosen, Flaschenständer, Einkaufswagen, Konsumartikel aller Art werden in der Kunst dargestellt oder als Material benutzt. Was aber gibt es Unmittelbareres und Sinnlicheres am alltäglichen Mensch-Sein als Lebensmittel und Essen?
Saftiges Obst, rohes Fleisch, knackiges Gemüse, rohe oder gekochte Eier, würziger Käse, Brot mit krosser Rinde – all das wird vom Menschen mit all seinen Sinnen wahrgenommen. Mit den Augen und der Nase, beim Auswählen, gustieren und riechen, mit den Händen beim Schälen, schneiden, putzen, reiben, würzen, kneten, braten, räuchern – in all seiner Fülle im Mund aufgenommen und einverleibt im wahrsten Sinn – und schließlich verdaut und ausgeschieden – beraubt all der schönen Farben, Gerüche und Konsistenz.
Die Literaturwurst
Aber zurück zu Dieter Roths Wurst. Er ging in dieser neuen Kunst weiter als viele andere. Im Jahr 1961 produziert er seine erste Literaturwurst. Zuerst aus Zeitschriften, später auch aus Werken der sogenannten Weltliteratur, wie beispielsweise Blechtrommel oder Hundejahre von Günter Grass, Bücher von Max Frisch u.a. Die bedruckten Seiten wurden zerschnitten, also zerkleinert wie das Fleisch für ein Wurstbrät. Anschließend wurden die Papierschnipsel mit Fett, Wasser sowie Gewürzen gemischt und die so entstandene Masse in echte Wurstdärme gefüllt. Ein Etikett auf der fertigen Wurst kündete vom jeweiligen literarischen Inhalt.Den Höhepunkt und gleichzeitig Abschluss der Literaturwürste bildete der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Dessen für Dieter Roth ungenießbares Werk war in einer Gesamtausgabe von insgesamt 20 Bänden im Suhrkamp-Verlag erschienen. Im Jahr 1974 wurde jedes einzelne dieser Bücher zu Wurst verarbeitet und wie in einer Wursterei zum Trocknen auf ein zweireihiges Holzgestell gehängt. Dieter Roth: „Den Hegel zum Beispiel, den fand ich immer so entsetzlich und auch gewisse deutsche Literaten, wie den Günter Grass (…). Die waren berühmt und hatten diese dicken Schinken. Ich hab das aus Neid und Wut verwurstet.“ Aus dem ungenießbaren Schinken wurde eine ungenießbare Literaturwurst.
Lebensmittel – Kunst – Mensch: alles verderblich
Seine lebenslange Beschäftigung mit Lebensmittel führte Dieter Roth ins Verderben – genauer gesagt zum unweigerlichen Verfall alles Organischen. Schokolade, Käse, Salami, Joghurt, Sauermilch, Kaffee, Kakaobohnen, Bananen wurden zu skulpturartigen Gebilden verarbeitet. Diese Kunstwerke wurden jedoch nicht konserviert. In den Tagen und Wochen nach ihrer Entstehung verrotteten, verfaulten oder verschimmelten sie, verströmten den entsprechenden Geruch dazu, ließen Maden gedeihen, lockten Fliegenkolonien an. An der Kunstakademie in Düsseldorf musste die Verwaltung die zwangsweise Räumung seines Ateliers anordnen.
Die Auseinandersetzung mit Lebensmittel in der Kunst ist hier also eine gänzlich andere als beispielsweise beim Dessertstillleben oder dem Austernbild. Jetzt geht es nicht mehr um schöne Oberflächen, exotische Esswaren oder Symbolik. Die Kunst von Dieter Roth positioniert sich mitten im Leben, im Mensch-Sein. Sein Konzept einer vergänglichen Kunst verweist schon im Schaffensprozess auf den unvermeidlichen Verfall, auf Verwesung, Verderben und Verrotten. Ein ganz natürlicher Vorgang in der organischen Welt, der Essen, Lebensmittel und Mensch gleichermaßen betrifft.
ArtFood: Essen mit Kunst.
PS: Eine andere Art der Verbindung zwischen gedrucktem Wort & Lebensmittel hat der Künstler Joanna Qu hergestellt, nachzulesen in diesem Posting: Fast Food & Fast News.
Infos & Quellen:
*Dieter Roth. Wikipedia.
*Wer sehen will wie Wurst gemacht wird: YouTube (16m 09s).
*Zitat Dieter Roth in: Ralf Beil: Künstlerküche; Dumont Verlag 2002, S.179 (zit. nach Annelie Lütgens).
Bilder:
*Bücherstapel: Eli Digital Creative, Pixabay.
*Porträt von Dieter Roth: Lothar Wolleh. Wikipedia.
*Bildgalerie: Alice Schmatzberger.
*Bücher aufgeschlagen: Free-Photos, Pixabay.
*Einzelne Wurst: Walter Bichler, Pixabay.
*Würste aufgehängt: Roy Buri, Pixabay.
*Schimmelbrot: Shutterbug75, Pixabay.
PS: Das Bildmaterial zu diesem Post verweist aus Gründen der Komplexität und Kosten des Urheberrechts symbolisch auf die Werke von Dieter Roth.
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